Interviews
Hausnotruf muss allen helfen – auch Menschen, die kaum Deutsch können!
Emre Turgul weiß, wie sich ältere Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in Deutschland fühlen. Welche Probleme es manchen bereitet, in deutscher Sprache zu kommunizieren – insbesondere im Alter, insbesondere in Notsituationen. Mit diesem Wissen gründete er 2014 seinen SHS-Hausnotrufdienst, der sich speziell an Menschen mit türkischem Migrationshintergrund richtet. Inzwischen hat er über 3.600 Kunden – und ist seit Mitte Januar Mitglied im BV HNR.
Sie sind bundesweit der erste Hausnotrufanbieter, der für türkischsprachige Menschen ein spezielles Angebot bietet. Wie kam es dazu?
Da kamen zwei Sachen zusammen. Erstens meine Familiengeschichte. Meine Großmutter kam 1972 nach Bremen und hat über 20 Jahre als Schweißerin auf der Vulkanwerft gearbeitet. Ihre vier Kinder blieben zunächst in der Türkei, ihr Mann – der daheim seinen dementen Vater zu versorgen hatte – folgte erst zehn Jahre später. Ein hartes Leben, ich habe meine Großmutter zeitlebens nie lachen gesehen. Sie wollten eigentlich auch zurück in die Türkei, Deutsch konnten sie bis zum Schluss nicht fließend. Für Gastarbeiter der ersten Generation ist das recht typisch. Nach wie vor spricht mehr als ein Viertel von diesen älteren Menschen zuhause kein Deutsch. Zweitens habe ich nach meinem Abi bei dem Hausnotrufdienst der BeWo-Unternehmensgruppe jetzt BeWo Telehealthcare meine Ausbildung zum IT-Systemkaufmann gemacht. Da merkte ich, dass für Menschen wie meine Großeltern das richtige Angebot fehlt.
In Deutschland leben rund 3 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund.
Konnten Sie den Markt schnell erobern?
Ich dachte auch, dass es eine super Idee ist, die sich schnell tragen wird. Ganz so war es aber nicht. In der türkischen Community fehlte bis vor wenigen Jahren komplett das Wissen, dass es Hausnotruf überhaupt gibt und er bei einem Pflegegrad sogar von der Kasse bezahlt wird. Da war Klinkenputzen angesagt. Ich habe zig Vorträge in Seniorengruppen und Moscheen zum Hausnotruf gehalten, bin mit einem einfachen Flyer von Haustür zu Haustür gezogen. Nach einem knappen halben Jahr waren dann tatsächlich die ersten 18,36 Euro – der damalige HNR-Kassensatz – auf meinem Konto. Das war ein großes Gefühl und ich meinte zu meinem Vater ‚Guck mal, das kommt nun monatlich, solange die Dame lebt‘. Das Gerät habe ich bei der Zentrale des Frankfurter Verbandes aufgeschaltet, der am Main größter Träger sozialer Einrichtungen ist und von Frau Duru, geleitet wird. Mit denen arbeite ich bis heute sehr eng zusammen. Um mich noch besser aufzustellen, habe ich im Oktober 2014 das Studium Management im Handel an der Hochschule Bremen gestartet und meinen SHS-Hausnotruf bis zum Abschluss Ende 2019 nebenbei weitergeführt. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mit sehr viel Aufwand knapp 100 Kunden gewonnen.
Heute haben Sie rund 3.600 Geräte angeschlossen – wie kommt das?
Meine Bachelorarbeit hatte die Gründung eines bundesweiten deutsch-türkischen Hausnotrufdienstes zum Thema. Damit hatte ich erstens einen tragfähigen Businessplan in der Tasche. Zweitens half mir mein Netzwerk, welches ich über die Jahre während des Studiums aufgebaut hatte, neue Kunden zu finden. In den Semesterferien habe ich bundesweit zahlreiche Vorträge gehalten und dadurch verschiedene Multiplikatoren gewonnen. Zusätzlich bin ich seit über dreizehn Jahren ehrenamtlich im Vorstand einer DITIB-Moscheegemeinde tätig. Dieses Netzwerk sowie die Zusammenarbeit mit Onlineplattformen und Pflegediensten – die sich unter anderem an türkische Zielgruppen richten – haben meinen Hausnotrufdienstes bekannter gemacht. Außerdem haben türkische Medienkanäle wie Metropol FM sowie zahlreiche türkische Zeitungen über meine Hausnotrufdienstleistungen berichtet.
Hinzu kommt, dass ich durch meinen Hintergrund einen spezifischen Zugang zu den Menschen habe. Meine inzwischen elf Mitarbeitenden und ich können sie in ihrer Muttersprache über den Hausnotruf aufklären und die Vorteile darstellen. Zudem können wir ihre Situation als Gastarbeitergeneration nachempfinden, das schafft Vertrauen. Und wir wissen, dass das Geld bei unserer Zielgruppe zumeist knapp ist. 98 Prozent unserer Kunden bekommen unseren Hausnotruf durch die Pflegekassen erstattet, darauf sind wir eingestellt.
Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?
Ich hoffe, dass wir aus der türkischen Gemeinde noch weitere Mitglieder von unserem Angebot überzeugen können, da ist noch einiges möglich. Dann ist es spannend zu gucken, ob man andere Ethnien anspricht. Warum nicht einen Hausnotrufdienst für Menschen mit arabischstämmigem Hintergrund in ihrer Muttersprache anbieten? Die sind derzeit komplett außen vor. Und vielleicht eröffnet sich irgendwann die Möglichkeit, direkt in der Türkei einen Hausnotrufdienst anzubieten. Dort ist die Pflegeversicherung nicht aufgebaut wie hier in Deutschland und noch relativ neu. Und auch eine Kostenbeteiligung für solche Systeme werden aktuell von der Pflegekasse in der Türkei nicht übernommen.
Warum sind Sie als noch junges Start-up in den BV HNR e.V. eingetreten?
Ich glaube, dass man in der Gemeinschaft mehr erreichen kann. Das erlebe ich zum Beispiel als Vorstand einer Moschee in Bremen Nord seit Jahren. Der BV HNR e.V. bietet ideale Möglichkeiten, um sich weiter zu vernetzen und zu lernen. So konnte ich mich beim Herstellerforum des Verbandes erstmals mit den Wohlfahrtsverbänden austauschen. Und ich glaube auch, dass man im BV HNR e.V.
abseits von Businessplänen wichtige versorgungspolitische Themen vorantreiben kann. So leiden Menschen mit Migrationshintergrund vielfach unter psychosomatischen Problemen, die aus der Zeit der Trennung und des Heimatverlustes stammen. Warum nicht die großartige Infrastruktur des Hausnotrufes für spezifische Angebote nutzen? Ich würde mich sehr freuen, wenn ich dazu einen Beitrag leisten könnte.